Die Corona in den spätrepublikanischen römischen Gerichtshöfen
Die Corona in den spätrepublikanischen römischen Gerichtshöfen
Аннотация
Название публикации (др.)
Corona в Римских судах эпохи поздней республики
Код статьи
S032103910013524-9-1
Тип публикации
Статья
Статус публикации
Опубликовано
Авторы
Хрусталев Вячеслав Константинович 
Аффилиация: Российский государственный педагогический университет им. А.И. Герцена
Адрес: Российская Федерация, Санкт-Петербург
Страницы
99-115
Аннотация

In spätrepublikanischer Zeit war die Anwesenheit einer Zuschauermenge (corona) ein wichtiges Merkmal jedes strafrechtlichen und auch zivilrechtlichen Prozesses. Unter der corona fanden sich Freunde und Klienten des Angeklagten, Rhetorik studierende junge Männer sowie einfach nach Unterhaltung suchende Schaulustige und sogar zufällige Passanten. Die zur Gerichtsverhandlung kommenden Menschen galten als Vertreter des souveränen römischen Volkes, die durch ihre Präsenz die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sowie die Rechtschaffenheit des von den Geschworenen gefällten Urteils garantieren sollten. Die corona kann deswegen als eine Art nicht-beschlussfassende Volksversammlung verstanden werden. Es wurde stillschweigend anerkannt, dass das Volk seine Meinung offen äußern und sogar ins Verfahren eingreifen durfte, falls es aus irgendeinem Grund ein Gerichtsurteil für ungerecht hielt. Der öffentliche Konsens bezüglich der Entscheidung der Richter war gewünscht und wichtig, und die Geschworenen sollten auf die Erwartungen des Publikums Rücksicht nehmen.

Источник финансирования
Dieser Aufsatz wurde im Rahmen des Forschungsprojektes „Der Gerichtsprozess in der Antike: juristische, politische, soziale und persönliche Aspekte“ verfasst, das von der Russischen Stiftung für Grundlagenforschung gefördert wurde (Projekt Nr. 19-09-00183). [Статья опубликована в рамках исследовательского проекта «Судебный процесс в г. античности: правовые, политические, социальные и личные аспекты », Финансирование выполнено Российским фондом фундаментальных исследований (проект № 19-09-00183).] Ich bedanke mich bei Alexej Filatow für seine Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts. Für sprachliche Korrekturen bin ich Prof. Dr. Peter Funke sehr dankbar. Alle antiken Jahreszahlen sind v. Chr. zu verstehen.
Классификатор
Получено
23.06.2020
Дата публикации
29.03.2021
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1 Eines der bedeutendsten Merkmale des römischen Verfahrens der spätrepublikanischen Zeit war bekanntlich sein öffentlicher Charakter. Jede Gerichtsveranstaltung stellte ein „public event“ dar. Verhandelt wurde normalerweise unter freiem Himmel, vor den am Forum befindlichen Gerichtstribunalen1: Auf diesem beschränkten Raum konnten mehrere Verhandlungen parallel stattfinden (Cic. Cluent. 147; Vat. 34; Ascon. 39 C), sodass Cicero in der zweiten Verrine ein lebendiges Bild des forum plenum iudiciorum zeichnen konnte (Cic. Verr. 2. 5. 143). Ein wichtiges Merkmal jedes strafrechtlichen und auch zivilrechtlichen Prozesses war die Präsenz einer größeren Menge von Zuschauern, die in den lateinischen Quellen meisthin als corona bezeichnet wird2. Obwohl es keinen Mangel an Werken zum Themenbereich der spätrepublikanischen römischen Gerichtshöfe gibt, wird die corona in der althistorischen Forschung überraschenderweise selten behandelt3. Das Ziel meines Aufsatzes ist es, aufs Neue diesen Gegenstand zu untersuchen, mit speziellem Blick auf die Zusammensetzung der corona und ihre Rolle im Verfahren. Ich klammere außerdem iudicia populi aus, weil in diesen die Anwesenden nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Entscheidungsträger auftraten.
1. Zu Versuchen, die exakte Lage der Tribunale der Prätoren am Forum festzulegen, s. etwa David 1992, 39–41; Färber 2014, 40–46; Rosillo-Lopez 2017b, 109–110; dort auch Hinweise auf weitere Literatur.

2. Corona wurde im forensischen Zusammenhang als Terminus technicus verwendet. In Ciceros Reden tauchen aber manchmal auch andere Bezeichnungen des Gerichtspublikums auf, die diese oder jene assoziativen Nebenbedeutungen haben können. Zuweilen nennt der Redner die Zuschauer einfach populus (Caec. 28) oder populus Romanus (Cic. Verr. 1. 48; 2. 1. 12; Flacc. 97) und betont dadurch ihre Bedeutung als Vertreter der ganzen römischen Bürgerschaft. Multitudo kann zwar im neutralen Sinne gebraucht werden (Cic. Verr. 1. 4; Sest. 36; Mil. 3), ist aber stellenweise negativ assoziiert (Cic. Flacc. 67). Die Bezeichnung des Gerichtspublikums als turba hat eine offensichtliche pejorative Konnotation (Cic. Flacc. 66). Vgl. dazu Rosillo-Lopez 2017b, 107.

3. In der Regel werden nur mehrere Sätze oder eine Fußnote der corona gewidmet (vgl. etwa Alexander 2002, 35–36; Morstein-Marx 2004, 206–207, n. 10; 2015, 299). Das erste Werk, in dem das römische Gerichtspublikum speziell untersucht wird, ist ein wertvoller Aufsatz von Rosillo-Lopez (2017b), aber dieser beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Rolle der corona im Verfahren und ihrem Einfluss auf den Gang eines Prozesses. Am ausführlichsten wurde der Gegenstand im Buch von Knopf (2018, 202–217) behandelt, dessen Ergebnisse jedoch umstritten bleiben.
2 Die erste und am häufigsten verwendete Bedeutung des Wortes corona in den antiken Texten ist „Kranz“ oder „Kreis“. Im übertragenen Sinne wird corona als Bezeichnung für kreisförmige Gruppen von Menschen bzw. unbelebten Objekten gebraucht4. Der vorherrschenden Forschungsmeinung zufolge assoziierten die Römer mit der Menschenmenge, die das Tribunal des Prätors und vor ihm stehende Holzbänke umgab, die Form eines Kranzes5. In jüngster Zeit schlug Fabian Knopf jedoch eine alternative Erklärung vor. Knopf weist darauf hin, dass die Zuschauer in der Gerichtsverhandlung den Redner nicht von allen Seiten umgeben durften, denn zwischen diesem und den Richtern, die er ansprach, musste ein leerer Raum gelassen werden. Deshalb habe die Menschenmenge keinen regulären Kreis bilden können. Daher kommt Knopf zum Schluss, dass der Terminus corona im Hinblick auf das Gerichtspublikum eher analog zu einem Ehrenkranz gebraucht worden sei, der im römischen Heer zur Auszeichnung für Soldaten gedient habe, die sich im Kampf besonders hervorgetan hatten. Eine große Zuhörerschaft betrachtete man Knopf zufolge als solches Ehrenzeichen für einen erfolgreichen Redner6.
4. Vgl. dazu etwa Georges 1879, I, 1594; OLD, 447; TLL, IV, 986–988.

5. S. z. B. Bablitz 2007, 57–59; Hall 2014, 23, n. 68.

6. Knopf 2018, 204–205.
3 Diese Erläuterung, wenngleich originell, ist m. E. nicht überzeugend genug, da zum einen die metaphorische Übertragung eines Namens auf ein anderes Objekt auch aufgrund einer ziemlich entfernten Ähnlichkeit möglich ist. Zu anderem ist es unklar, warum Knopf davon ausgeht, dass die corona unbedingt eben den Redner umgab: Soweit wir es beurteilen können, standen die Zuschauer normalerweise an den Seiten und hinter den niedrigen Holzbänken (subsellia), auf denen die Geschworenen sowie andere an der Verhandlung teilnehmende Personen saßen7. Wenn die Anzahl der Anwesenden recht groß war, bildeten sie naturgemäß einen Ring, der nur an der Stelle geöffnet war, wo sich das Tribunal des Prätors befand. Leanne Bablitz vergleicht dies treffend mit einer Modenschau in einem Einkaufszentrum, bei der das Publikum einen Laufsteg und sich davor befindende Sitzplätze von allen Seiten umgibt8. Eben auf dieses räumliche Charakteristikum der corona deutet z. B. Cicero hin, als er sich auf eine corona multiplex, „viele Reihen tief stehende Zuschauer“, bezog (Cic. Brut. 290)9. Obwohl die Quellen am häufigsten Zuschauer erwähnen, die einem Redner im Stehen zuhörten (corona circumstantium)10, saßen sie manchmal auf etwas Geeignetem, z. B. auf den Aurelischen Stufen (gradus Aurelii) (Cic. Cluent. 93; Flacc. 66) 11.
7. Vgl. Plin. Epist. 6. 33. 3: Sedebant centum et octoginta iudices (tot enim quattuor consiliis colliguntur); ingens utrimque advocatio et numerosa subsellia, praeterea densa circumstantium corona latissimum iudicium multiplici circulo ambibat. – „Den Gerichtshof bildeten 180 Richter – so viele werden ausgelost, wenn alle vier Kammern tagen –; rings um das weite Tribunal eine Unmenge Anwälte beider Parteien und voll besetzte Sitzbänke, außerdem in endlosen Reihen ein dichter Kranz stehender Interessenten“ (übers. v. H. Kasten).

8. Bablitz 2007, 58–59.

9. Vgl. auch die oben (Anm. 7) zitierte Pliniusstelle.

10. Vgl. etwa Suet. Aug. 93; Val. Max. 6. 8. 1; Plin. Epist. 6. 33. 3; Lact. Inst. 4. 26. 21.

11. Die Aurelischen Stufen und das neue Tribunal (tribunal Aurelium) wurden Mitte der 70er Jahre durch einen der Brüder Aurelii Cottae – Gaius (Konsul 75) oder Marcus (Konsul 74) – zur Abhaltung von Gerichtsverfahren aufgebaut. Von den beiden Bauten sind keine nachweisbaren archäologischen Spuren erhalten geblieben und aus diesem Grund sind sie noch nicht genau lokalisiert; anscheinend waren sie aus Holz errichtet. Möglicherweise befanden sich diese Bauten irgendwo auf dem (süd)östlichen Teil des Forums, nahe dem Castor-Tempel (so z. B. Coarelli 1985, 192–193; Kondratieff 2009, 329; 2010, 102); dagegen O’Connor 1900 (die gradus Aurelii waren an der Westseite des Forums befindlich und sind mit der sogenannten Graecostasis zu identifizieren); Richardson 1992, 181–182 (sie waren „probably a sector of the stepping of the Comitium restored by Aurelius“); Korhonen 1999 (er lokalisiert die Aurelischen Stufen in der Nähe von der Curia Hostilia). Die gradus Aurelii stellten vermutlich gebogene, abgestufte Sitzreihen dar und waren für Zuschauer bei den vor dem Tribunal stattfindenden Verhandlungen bestimmt (vgl. Cic. Cluent. 93: gradus illi Aurelii tum novi quasi pro theatro illi iudicio aedificati videbantur). Allem Anschein nach verbrannten das Tribunal und die Aurelischen Stufen im Jahre 52 während der bei der Bestattung des Clodius vorgefallenen Unruhen, oder im Jahre 44, als der Leichnam Caesars vor den Regia kremiert wurde (s. dazu Korhonen 1999; Kondratieff 2009, 330; 2010, 103–104). Zu den Aurelischen Stufen vgl. weiter etwa Coarelli 1985, 190–202; Korhonen 1999; Kondratieff 2009, 329–333; 2010, 101–110; Davies 2017, 210, 309, n. 185 und 186 (mit anderer Bibliographie).
4 Einige Forscher halten es für möglich, den Terminus corona auch als Bezeichnung des Publikums in contiones zu verwenden12. Betrachten wir allerdings Beispiele für den Gebrauch des Wortes corona im Sinne „Menge der Zuhörer/Zuschauer“, so erkennen wir, dass es sich im nichtmilitärischen Zusammenhang in der Regel eben auf ein Gerichtspublikum bezieht13.
12. Laser 1997, 139; Jehne 2011, 75. Vgl. dazu auch Knopf 2018, 205–206, 209–210.

13. Belege aus der Republik: Cic. Verr. 2. 3. 49; Flacc. 69; Mil. 1; Brut. 192; 290; Fin. 2. 74; 4. 74; Tusc. 1. 10; Catull. 53. 1. Belege aus der Kaiserzeit: Val. Max. 6. 8. 1; Sen. Contr. 8. 4. 18; Sen. De ira. 1. 12. 3; Mart. 6. 38. 5; Plin. Epist. 2. 14. 6; 6. 33. 3; Suet. Aug. 93. Ausnahmefälle: Hor. Epist. 1. 18. 53 (über die Zuschauer, die Militärübungen der jungen Männer auf dem Marsfeld beobachten), vgl. dazu Stat. Theb. 11. 422 (über die Geister der Verstorbenen, die der Schlacht zuschauen); Plin. Epist. 7. 17. 9 (über Zuhörer bei den öffentlichen Lesungen der Reden); Quint. Inst. 12. 10. 74 (im Allgemeinen über das Publikum, das einem Redner zuhört).
5 Das erste Merkmal des römischen Gerichtspublikums, das schon bei flüchtigem Blick auffällt, ist seine Heterogenität hinsichtlich des Alters, des sozialen Status und der Bildung. Auch war die Motivation zum Besuch der Gerichtsveranstaltungen selbstverständlich sehr verschieden, sodass man die Zuschauer in mehrere Gruppierungen aufteilen kann. In dieser Hinsicht unterschied sich die heterogene corona wesentlich von den Richterkollegien, die ausschließlich durch wohlhabende und den höchsten Ständen der Republik (Senatoren, Ritter oder Ärartribune) angehörige Bürger besetzt wurden14.
14. Morstein-Marx 2015, 299.
6 In der Forschung ist die Vorstellung recht weit verbreitet, dass die corona ein Publikum darstellte, das nach Unterhaltung suchte und vor allem durch den Wunsch motiviert war, glänzende rednerische Darbietungen zu genießen. Betont wird die enge Verknüpfung zwischen dem aus den Zuhörern bestehenden „Kranz“ und dem Gerichtsredner, die „Rednerzentriertheit“ der corona15. Am ausführlichsten wurde diese Auffassung von Knopf dargelegt. Knopf glaubt, dass „die corona als Gruppe nicht für das Publikum insgesamt wesensbestimmend“ gewesen sei16. Neben der corona habe es in den Gerichtsverhandlungen einige andere Zuschauergruppierungen gegeben, nämlich Klienten, Freunde, iuvenes (d. h. Rhetorik studierende junge Männer) und, zumindest in der Kaiserzeit, gekaufte Claqueure17. In einer Verhandlung, so Knopf, hätten mehrere coronae vorkommen können, die sich um verschiedene Redner sammelten18. Andererseits sieht er in der corona ein „regelmäßiges und stabiles Publikum“, das – zusammen mit den pädagogisch interessierten iuvenes – eine plebs tribunalis bildete19, analog zu einer plebs contionalis, deren Existenz von vielen Althistorikern postuliert wurde20.
15. Knopf 2018, 204: „Die corona zeichnete sich immer durch die Fixierung auf einen Redner aus, mit dem sie zumindest partiell auch interagierte“. Vgl. Jehne 2011, 75, Anm. 83. Laser (1997, 139) charakterisiert die corona als „Zufallspublikum“.

16. Knopf 2018, 210. Knopfs Auffassung stützt sich auf Cic. Brut. 289, wo Cicero deutlich zwischen corona und advocati („Herbeigerufener“) differenziert.

17. Knopf 2018, 217.

18. Knopf 2018, 212.

19. Knopf 2018, 210, 217.

20. Der Begriff wurde von Meier (1965, 614; 1966, 114–115) geprägt für jenen Teil der plebs urbana, der regelmäßig an den contiones und Tribuskomitien beteiligt war. Vgl. auch Vanderbroek 1987, 86–93; Jehne 2006; 2013; 2014, 127–128. Diese plebs contionalis bestand angeblich größtenteils aus den im Umkreis des Forums wohnenden Krämern und Handwerkern (tabernarii und opifices). Nach Thommen (1989, 183) setzte sie sich auch aus Tagelöhnern und Arbeitslosen zusammen; vgl. dazu Benner (1987, 78–79), der annimmt, dass die plebs contionalis fast ausschließlich aus solchen Menschen bestanden habe. Pina Polo (1996, 130–134) verwendet zwar den Begriff plebs contionalis, aber glaubt, dass „[sich] die Zuhörerschaft politischer Versammlungen vielmehr jeweils unterschiedlich [aufbaute]“. Dagegen vgl. Tatum 1999, 29–30; Mouritsen 2001, 39–43, 57; 2013, 71–74; 2017, 75–76, die bezweifeln, dass ein solcher politisch tatkräftigste Teil der Plebs überhaupt jemals existiert habe. Nicht so sicher ist Morstein-Marx (2004, 41–42, 70, 128–131): Er glaubt, „their proximity to the Forum made ‘shopkeepers and artisans’ a natural and important constituent of most contiones“, aber die Zusammensetzung eines Publikums habe auch von besonderen Umständen des Einzelfalls abgehangen. Knopf (2018, 254–255, 361) ist der Ansicht, dass die plebs contionalis als Entität, die am politischen Leben der Republik beteiligt war, erst in den 50er Jahren mit P. Clodius in Erscheinung getreten sei.
7 Doch scheint mir eine solche Differenzierung künstlich zu sein. Ich bin der Auffassung, dass wir dem Sprachgebrauch der Römer folgen sollten, die m. E. das gesamte Gerichtspublikum als corona bezeichneten21. Die von Knopf zitierte Brutusstelle22 begründet seine Meinung nicht, da er den Ausdruck advocati zu breit interpretiert, während dieser Begriff im gerichtlichen Zusammenhang eine genaue technische Bedeutung hatte: Man sollte unter advocati nicht alle in der Verhandlung Anwesenden subsumieren, die mit der einen oder der anderen Prozesspartei sympathisierten. Als advocati werden vielmehr jene in der Gesellschaft ein gewisses Ansehen genießenden Personen unter den Verwandten und Freunden des Angeklagten bezeichnet, die ihm beim Prozess durch ihre Ratschläge oder durch ihre bloße Anwesenheit beistanden23. Im Laufe der Verhandlung saßen die advocati auf den Bänken neben dem Angeklagten, häufig unrasiert und in schmutziger Kleidung, um bei den Geschworenen Mitleid mit diesem hervorzurufen (Cic. Cael. 4; App. BC. 2. 24). Im Repetundenprozess gegen Scaurus von 54 stürzten seine Freunde und Verwandten, von denen manche möglicherweise zu den advocati zählten, bei der Abstimmung zu Füßen der Richter und flehten sie um Erbarmen an (Ascon. 28 C). Andere den Angeklagten unterstützende Personen, und zwar Gesandte aus Munizipien, Angehörige seiner Tribus, Klienten24 sowie wahrscheinlich weniger einflussreiche Freunde, standen ohne Zweifel hinter den Bänken unter den anderen Zuschauern und waren lediglich durch ihre Trauerkleidung unterscheidbar.
21. So z. B. Rosillo-Lopez (2017b, 110): „The corona was formed of relatives, clients and friends of the two parties involved, but it was also composed, sometimes in great numbers, of casual and interested bystanders“.

22. Cic. Brut. 289: At cum isti Attici dicunt, non modo a corona, quod est ipsum miserabile, sed etiam ab advocatis relinquuntur. – „Wenn aber diese unsere Attizisten sprechen, dann werden sie nicht nur von der Runde der Hörer allein gelassen, was schon schlimm genug ist, sondern sogar von ihren Herbeigerufenern“ (übers. v. B. Kytzler, leicht modifiziert).

23. Und nicht „Freunden des entsprechenden Anwalts“, wie Knopf (2018, 207) aus irgendeinem Grund glaubt. S. dazu Ps.-Ascon. 190 St; Kubitschek 1894; David 1992, 51–52, 475; Paulus 1996.

24. Alle diesen Gruppierungen sind von Tacitus (Dial. 39. 4) aufgelistet.
8 Meines Erachtens ist das Verständnis der corona als zufälliges, vorrangig unterhaltungsmotiviertes und rednerzentriertes Publikum größtenteils auf Besonderheiten der uns zur Verfügung stehenden Quellen zurückzuführen, unter denen die rhetorischen Schriften und Reden Ciceros die wichtigste Rolle spielen. Cicero als praktizierender Gerichtsredner, der viele Erfahrungen bei Auftritten vor Gericht sammelte, interessiert sich selbstverständlich in erster Linie für die Interaktion des Redners und seines Publikums sowie die Vorgehensweisen mit dem wirksamsten Einfluss auf die Zuhörerschaft. Wie Michael Alexander mit Recht bemerkt, betrachtet Cicero die corona vor allem als Barometer, das die rhetorische Wirksamkeit einer Rede zeigen kann25. Deswegen schenkt Cicero, wenn er von der corona spricht, gerade den neutralen Zuhörern viel Aufmerksamkeit, deren Reaktion in diesem Zusammenhang am aufschlussreichsten ist, und geht auf andere Zuschauergruppierungen nur selten ein.
25. Alexander 2002, 35–36. Vgl. Cic. Brut. 192; 290.
9 Trotzdem unterliegt es keinem Zweifel, dass diese Schaulustigen, für welche die Anwesenheit bei einer Gerichtsverhandlung vor allem eine Art angenehme Zeitvertreib war, einen großen Teil des Gerichtspublikums bei vielen Prozessen bildeten. Es ist zu vermuten, dass ein solches Publikum durch besonders skandalöse Straftatbestände, den berühmten Namen und die Popularität eines Angeklagten sowie Auftritte der Starredner auf der Verteidiger- bzw. Anklägerseite angelockt werden konnte. Cicero lobt die Fähigkeit der römischen Plebs, die Qualität der rednerischen Darbietungen einzuschätzen und wirklich gute Redner nach Gebühr zu beurteilen (Cic. Brut. 184–192). Manche Zuschauer konnten sich am Gerichtsort auch zufällig aufhalten, denn während der Gerichtsveranstaltungen ging das alltägliche Leben auf dem Forum weiter. Nach Tacitus’ Zeugnis, das aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Zeit der Republik gültig ist, gab es unter den Zuschauern in den kaiserzeitlichen Gerichten sowohl diejenigen, die über den ganzen Prozesstag anwesend waren, als auch eher zufällig in die Verhandlung geratene Menschen, die immer wieder hinzutreten und weggehen konnten26. Im Jahre 100 ging z. B. ein Teil des auf dem Forum versammelten Volkes in die Verhandlung unter dem Vorsitz des Prätors Glaucia, anstatt an der vom Volkstribun L. Appuleius Saturninus gleichzeitig abgehaltenen contio teilzunehmen; darüber geriet Saturninus in solche Wut, dass er Glaucias Amtsstuhl zerbrach27. Ebenfalls waren Zuschauer durch nichts gehindert, die Verhandlung zu verlassen, wenn ihnen das Plädoyer nicht gefiel, was einer der schlimmsten Albträume war, den sich ein römischer Gerichtsredner nur denken konnte (Cic. Brut. 192; 289)28.
26. Tac. Dial. 20. 3: vulgus quoque adsistentium et adfluens et vagus auditor absuevit iam exigere laetitiam et pulchritudinem orationis. – „Auch die Menge der Dabeistehenden und der nur zufällig vorbeikommende und gleich weitergehende Zuhörer ist schon gewohnt, von einer Rede Schönheit und Vortrefflichkeit zu verlangen“ (übers. v. H. Volkmer).

27. Ps.-Aur. Vict. Vir. ill. 73. 2. Wahrscheinlich bot jene Gerichtsverhandlung im Vergleich zu Saturninus’ contio den Zuschauern Aussicht auf bessere Unterhaltung. Die exakte Datierung erweist sich problematisch: Für das Jahr 100 plädieren Dondin (David, Dondin 1980, 203) und Beness (1991, 44, n. 51); Rosillo-Lopez (2017b, 110) setzt diesen Vorfall ins Jahr 103, was m. E. weniger wahrscheinlich ist. Broughton (1951, 565, n. 2) vermutet, es könne sich um ein Spektakel gehandelt haben, das von Saturninus und Glaucia absichtsvoll aufgeführt worden sei, um die Popularität des Volkstribuns zu erhöhen.

28. Dies passierte einmal C. Scribonius Curio dem Vater, der von dem Publikum bei einer contio allein gelassen wurde. Aus diesem Grund hörte Curio für eine Weile vollkommen auf, mit Reden in den Volksversammlungen aufzutreten, obwohl er damals das Volkstribunat bekleidete (Cic. Brut. 192; 305).
10 Zu welchen sozialen Gruppen die Mehrheit dieser nach Unterhaltung suchenden oder zufällig anwesenden Zuschauer gehörte, ist schwierig zu ermitteln. Es lässt sich vermuten, dass solche Leute über genügend Freizeit und ein hinreichendes Auskommen verfügen mussten, um ihre Mußestunden auf dem Forum verbringen zu können. Die Rede kann deswegen in erster Linie von wohlhabenden und angesehenen Bürgern sein29. Tagelöhner, Kleinhändler oder Handwerker waren wohl nur selten unter solchen Schaulustigen zu finden, weil diese nicht in der Lage waren, auf ihren Tagesverdienst zu verzichten, um sich Plädoyers der Gerichtsredner anzuhören. Wichtige Strafprozesse wurden auch von den Senatoren in großer Zahl besucht30. Als der Ambitus-Prozess gegen C. Marcellus im Jahre 51 stattfand, war man sogar gezwungen, die geplanten Senatssitzungen zu verschieben, weil allzu viele Senatsmitglieder diesen fernblieben, um in den Verhandlungen dabei zu sein (Cic. Fam. 8. 9. 2). Einige Senatoren standen ohne Zweifel der einen oder der anderen Prozesspartei bei, aber andere werden diesen Prozess nur der Unterhaltung wegen verfolgt haben. Die Gerichtsverhandlungen wurden auch von den Rhetorik studierenden jungen Männern aus senatorischen Familien besucht, die sich auf eine politische Karriere vorbereiteten31.
29. Nach Mouritsen (2001, 43–46; 2017, 75–79) überwogen dieselben Menschen in den meisten Fällen auch in der contiones. Cicero setzt häufig das Gerichtspublikum mit den Zuhörern bei den contiones gleich; s. Cic. Flacc. 66; Fin. 2. 74.

30. Vgl. etwa Cic. Fam. 8. 2. 1; Tac. Dial. 39. 4.

31. S. dazu weiter etwa Bablitz 2007, 121; Knopf 2018, 216–217 (mit Hinweisen auf Quellen und andere Literatur).
11 Trotzdem blieb der Zugang zu Gerichtsverhandlungen für alle Interessierten offen, und manchmal konnten unter den Zuhörern neben römischen Bürgern auch Peregrine anwesend sein32. Diese Gruppen dürften aber durch etwas Wichtigeres als den einfachen Wunsch nach Amüsement motiviert gewesen sein. Dasselbe gilt auch für jene Bürger, die außerhalb Roms wohnten. Zum Beispiel waren unter den Zuschauern im Ambitus-Prozess gegen Cn. Plancius im Jahre 55 Ritter und Ärartribune anwesend, die aus Plancius’ Heimatstadt Atina gekommen waren, um ihm beizustehen33. In den Verhandlungen gegen L. Flaccus im Jahre 59 bestand die corona zumindest teilweise aus in Rom ansässigen Juden, deren Stammesgenossen durch Flaccus’ Amtsmissbrauch in der Provinz Asia finanziell geschädigt worden waren34, obwohl die xenophobischen Anmerkungen Ciceros dazu ohne Zweifel durch ein hohes Maß an Übertreibung geprägt sind. Cicero behauptet, dass der Ankläger D. Laelius den Gerichtsort neben den Aurelischen Stufen mit Absicht gewählt und die Menge der Juden mobilisiert habe, um dadurch die Verteidigerpartei und die Richter unter Druck zu setzen35. Ob dieser Vorwurf zutrifft, wissen wir nicht mit Sicherheit; die Juden könnten ebenfalls aus eigener Initiative in die Verhandlung gekommen sein, da sie eine heftige Abneigung gegen Flaccus gehabt zu haben scheinen. Bezahlte Claqueure, die in den kaiserzeitlichen Gerichtshöfen üblich waren36, sind in der Zeit der Republik nicht belegt.
32. Die Präsenz anderer „Marginalgruppen“ bei Gerichtsverhandlungen, d. h. Frauen und Kinder (Familienmitglieder der Angeklagten ausgenommen) sowie Sklaven ist zwar nicht belegt; aber es ist kaum daran zu zweifeln, dass diese sich auch unter Zuschauern fanden. Ciceros Erwähnung, dass Clodius’ Anhängerschaft im Prozess wegen Verletzung des Fests der Bona Dea im Jahre 61 ausschließlich aus Sklaven bestand (Cic. Att. 1. 16. 5: pleno foro servorum), muss allerdings skeptisch beurteilt werden: Unter servi sind an dieser Stelle eher Freigelassene zu verstehen; vgl. Pina Polo 1996, 131.

33. Cic. Planc. 21: Hi tot equites Romani, tot tribuni aerarii – nam plebem a iudicio dimisimus, quae cuncta comitiis adfuit – quid roboris, quid dignitatis huius petitioni attulerunt? – „So viele römische Ritter, so viele Ärartribune (denn die gewöhnlichen Bürger haben wir vom Prozess ferngehalten; doch bei den Wahlen waren sie alle dabei): welchen Nachdruck, welches Ansehen haben sie wohl der Bewerbung des Plancius verliehen?“ (übers. v. M. Fuhrmann). Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, dass Cicero auf die eine oder andere Weise dem einfachen Volk den Zutritt zur Gerichtsverhandlung verwehrte. Knopf (2018, 212–213) vermutet, dass einfach wenig Platz für die Plebs („Stadtvolk“) im Gerichtsraum geblieben sei, weil Cicero und Plancius für die Anwesenheit einer großen Anzahl von angesehenen Atinaten, vor allem Ritter und Ärartribune, gesorgt hätten. Ich bin aber der Auffassung, dass Cicero an dieser Stelle keine römische Stadtplebs, sondern die Wähler aus Atina meint. In diesem Teil der Rede spricht Cicero von den Atinaten, die seinen Mandanten sowohl bei den Wahlen als auch im Prozess unterstützten. Für die Abstimmung in den Wahlkomitien versuchte natürlich Plancius, der für die Ädilität kandidierte, seine Landesleute aus allen Ständen zu mobilisieren, einschließlich derer aus der Plebs. In die Verhandlung brachte die Verteidigerpartei allerdings nur die respektabelsten Bürger, die durch ihr Ansehen bei den Richtern Zuneigung zum Angeklagten erwecken helfen konnten. Karataş (2019, 190, Anm. 201) lässt in ihrem Kommentar zu pro Plancio diese Frage offen.

34. Vgl. Cic. Flacc. 66–69.

35. Cic. Flacc. 66: Sequitur auri illa invidia Iudaici. Hoc nimirum est illud quod non longe a gradibus Aureliis haec causa dicitur. Ob hoc crimen hic locus abs te, Laeli, atque illa turba quaesita est; scis quanta sit manus, quanta concordia, quantum valeat in contionibus. – „Jetzt folgt die leidige Geschichte von dem Gold der Juden. Das ist natürlich der Grund, weshalb die Sache des Flaccus in der Nähe der aurelischen Stufen verhandelt wird; wegen dieses Anklagepunktes hast du dich um diesen Platz und die Clique dort bemüht, Laelius: du weißt, wie stark sie ist, wie sie zusammenhält und welche Rolle sie bei Versammlungen spielt“ (übers. v. M. Fuhrmann). Knopf (2018, 211–212) zieht daraus den Rückschluss, dass sich die Aurelischen Stufen in der Nähe des jüdischen Viertels befunden hätten, was aber durch keine Quelle direkt bezeugt ist und mir deswegen nicht einleuchtet. Wahrscheinlicher ist, dass Cicero an dieser Stelle mit der Gegenüberstellung der Wörter auri Aureliis spielt (so Marshall 1975, 139). Zu den Wohnorten der Juden im antiken Rom s. z. B. Collon-Bérard 1940.

36. S. Plin. Epist. 2. 14. 4–8; Quint. Inst. 4. 2. 37. Vgl. dazu Bablitz 2007, 58, 126–132; Knopf 2018, 213.
12 Die letzte Gruppe, die sich in der Zusammensetzung der spätrepublikanischen corona erkennen lässt, bildeten politisch motivierte Zuschauer. Doch kommt die Partizipation aus politischen Beweggründen nur selten vor, und alle der in den Quellen bezeugten Fälle dieser Partizipation sind mit dem Namen des P. Clodius verknüpft37. Während des Clodiusprozesses wegen Verletzung des Fests der Bona Dea im Jahre 61 war das Forum mit den Anhängern des Angeklagten gefüllt (Cic. Att. 1. 16. 4–5). Es gibt keinen positiven Beleg dafür, dass diese Zuschauermasse von Clodius selbst zur Teilnahme bewegt wurde; aber dennoch dürfte dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen zu sein. Die Clodianer aus der Stadtplebs, die Rache für den Mord ihres Führers forderten, bildeten einen großen und den am meisten engagierten Teil des Publikums im Prozess gegen Milo im Jahre 52 (Cic. Mil. 2–3; Ascon. 40–41 C). In diesem Fall wissen wir mit Sicherheit, dass diese Clodianer von Clodius’ Verbündeten aus der Reihe der Volkstribune, insbesondere von T. Munatius Plancus Bursa, aktiviert wurden. Am Vortage der letzten Verhandlung berief Munatius Plancus eine contio ein, an der die beim Prozess anwesenden Zuschauer teilnahmen. Auf dieser Versammlung stachelte der Volkstribun die Plebs an, am nächsten Tag alle tabernae in der Stadt zu schließen und in großer Zahl zum Prozess zu erscheinen, um die Richter unter Druck zu setzen und dadurch die Verurteilung Milos zu erwirken (Ascon. 40–41, 52 C)38. Aber dabei handelt es sich um Ausnahmefälle, denn Clodius war vielleicht der einzige spätrepublikanische Politiker, der eine große Masse der Stadtplebs direkt zu mobilisieren wusste, wenn er keine Magistratur bekleidete39.
37. Die Aktivitäten des Volkstribuns L. Quinctius, der für massive Erscheinung des gegen den Angeklagten feindlich gesinnten Publikums bei der Verhandlung gegen C. Iunius im Jahre 74 gesorgt hat, sind aus der Diskussion auszuklammern, denn es ging damals um einen Komitialprozess (vgl. Alexander 1990, 77 [Nr. 153]). Dasselbe gilt für den Miloprozess im Jahre 56, in dessen Verlauf die operae Clodianae stark einschritten (Cic. Ad Q. fr. 2. 3. 3). Vgl. dazu Knopf 2018, 214–216.

38. Zur Verbindung zwischen der Schließung der tabernae und den politischen Aktivitäten der römischen Plebs s. weiter etwa Pina Polo 1996, 132–133 mit Anm. 22; O’Neill 2001, 217–220; Morstein-Marx 2004, 129.

39. Vgl. dazu z. B. Vanderbroek 1987, 140–141; Knopf 2018, 216, 223–224.
13 Die übliche Größe der corona ist fast unmöglich zu schätzen, weil die Anzahl der Anwesenden in diesem oder jenem Gerichtsprozess in den Quellen, wenn überhaupt, lediglich mit überaus vagen Ausdrücken angegeben wird. Martin Jehne hat vielleicht Recht, wenn er unterstreicht, dass die corona als „der zahlenmäßig beschränkte Kreis, der wirklich hören konnte, was gesagt wurde“ zu verstehen ist40, und in der Welt ohne Mikrophone konnte dieser Kreis allzu groß nicht sein41. Knopf erwidert darauf, mit Bezug auf Cic. Brut. 290, dass sich die Zuhörer selbst hätten disziplinieren müssen, um „eine Ruhe über einen größeren Raum herzustellen und diese auch einzuhalten“ 42. Wenngleich man die Fähigkeit des römischen Publikums zur Selbstdisziplinierung nicht unterschätzen sollte, darf aber nicht außer Betracht bleiben, dass die Gerichtsverhandlungen auf dem belebten, immer von Menschen wimmelnden Forum stattfanden, sodass eine totale Stille jedenfalls kaum herzustellen gewesen sein dürfte. Die Größe einer corona hing offensichtlich in hohem Maße von dem Interesse ab, das der jeweilige Prozess beim Volk weckte. Strafverhandlungen waren ohne Zweifel stärker besucht als Zivilverhandlungen43. Prozesse gegen politisch bedeutende und einflussreiche Personen, die über viele Verwandte, Freunde, Anhänger und Klienten verfügten, dürften ein besonders großes Publikum angezogen haben44. Der Bezug auf die große Anzahl der Zuschauer wird manchmal von Cicero in den Verteidigungsreden als Argument zugunsten der Unschuld seines Mandanten vorgebracht45. Es lässt sich mit aller Vorsicht vermuten, dass die Größe des Publikums zwischen mehreren Dutzend und mehreren Hundert variieren konnte. David nimmt an, dass die Anzahl der Anwesenden in den großen Prozessen kaum weniger gewesen sei als die Anzahl jener, die an den Wahl- und Gesetzkomitien oder wichtigen contiones teilgenommen hätten46. Diese Annahme erscheint mir allerdings übertrieben47.
40. Jehne 2011, 75, Anm. 83.

41. In den meisten Fällen ist ein gut trainierter Redner unter freiem Himmel auf offener Fläche in etwa 50 oder 60 Meter Entfernung deutlich hörbar (vgl. dazu Aldrete 1999, 73–84).

42. Knopf 2018, 208.

43. Dies gilt auch für Verfahren der Kaiserzeit; vgl. Bablitz 2007, 58.

44. Tacitus (Dial. 39. 4) spricht, dass die Prozesse von C. Cornelius, M. Scaurus, T. Milo, L. Bestia und P. Vatinius „unter dem Zulauf der gesamten Bürgerschaft“ (concursu totius civitatis) stattgefunden hätten.

45. Cic. S. Rosc. 11; Planc. 21. Vgl. Rosillo-Lopez 2017b, 113.

46. David 1992, 470.

47. Nach Schätzung von Mouritsen (2001, 18–32; 2017, 55–57) konnten an den auf dem Komitium organisierten Volksversammlungen höchstens 3600 bis 3800 Menschen beteiligt sein. An den Abstimmungen auf dem Forum hätten maximal ca. 10.000 Menschen teilgenommen. Auf dem Marsfeld, wo in der Zeit der späten Republik vermutlich sämtliche Wahlkomitien stattfanden, habe es Platz für nicht mehr als 30.000 Wähler gegeben. Dies sind aber nur Maximalzahlen, die selten erreicht worden sein dürften. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass es kaum eine Gerichtsverhandlung gab, in der mehrere Tausend Zuschauer anwesend waren, weil die Durchführung des Verfahrens dann größere Leerräume erfordert hätte. Zu modernen Schätzungen der räumlichen Kapazität des Komitiums und Forums vgl. auch etwa MacMullen 1980; Jehne 2006, 223–225; Kondratieff 2009, 341 mit n. 92 (mit Hinweisen auf andere Literatur).
14 Prozesse vor den quaestiones perpetuae waren häufig sehr zeitaufwendig und zogen sich über mehrere Tage hin48. Eine Verhandlung konnte vermutlich bis zu zehn Stunden dauern49. Es ist selbstverständlich nicht zu erwarten, dass alle Zuschauer, insbesondere jene, deren Kommen nicht sach- oder personenbezogen motiviert war, so viel Zeit bei den Verhandlungen verbringen konnten und wollten. Daher konnte das Publikum sogar in ein und demselben Prozess fluktuieren und von Tag zu Tag wechseln50.
48. Laut den leges Pompeia de vi und de ambitu musste der Prozess innerhalb von fünf Tagen abgeschlossen werden (Ascon. 39 C), aber diese Gesetze legten ein beschleunigtes Verfahren fest. Normalerweise sollten die Prozesse noch länger gedauert haben (vgl. etwa Mommsen 1899, 434).

49. Lex Ursonensis. 102. Z. 24–26: ne quis eorum ante h(oram) neve post horam (undecimam) diei quaerito neve iudicium exerceto. Vgl. dazu Mommsen 1899, 364–365; Greenidge 1901, 459.

50. Vgl. Cic. Verr. 2. 1. 138.
15 Die Frage nach der Wichtigkeit der corona im römischen Verfahren wird in der Forschung verschieden beantwortet. Alexander und Morstein-Marx betrachten die corona als „secondary audience“ eines Gerichtsredners, sodass es für den Letzteren nur nebensächlich gewesen sei, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Die Reaktion der corona habe nur insoweit Bedeutung gehabt, als diese allenfalls einen indirekten Einfluss auf die „primary audience“, d. h. auf die Geschworenen, habe ausüben können, selbst wenn sie sich bis zu einem gewissen Grad auch auf den Auftritt des Redners sowie den Inhalt seiner Rede ausgewirkt habe51. Häufiger wird jedoch die Meinung vertreten, dass die corona in der Gerichtsverhandlung eine nicht weniger wichtige Rolle als die Richter gespielt habe und einen Prozessausgang doch stark habe beeinflussen können52.
51. Alexander 2000, 60–62; 2002, 35; 2010, 105; Morstein-Marx 2004, 206–207, n. 10; 2015, 299. Vgl. auch Pina Polo 2019, 125.

52. Vgl. z. B. Fantham 2005, 99; Millar 1998, 217; Tatum 1999, 15; Powell, Paterson 2004, 32; Rosillo-Lopez 2017b, 118–119; Criste 2018, 231.
16 Unabhängig davon, ob man sich der ersten oder der zweiten Auffassung anschließt, ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass das Gerichtspublikum nicht passiv war und während der Verhandlung seine Haltung deutlich zum Ausdruck brachte53. Die Zuhörer konnten auf eine rednerische Darbietung verschieden reagieren. So konnten sie lautstark ihre Zustimmung äußern54, über Scherze lachen55 oder im Gegenteil ein missbilligendes Geschrei erheben und den Redner mit Schmähungen überhäufen (Cic. Verr. 2. 1. 12)56. Eine feindlich gesinnte corona war sogar in der Lage, dem Redner das Wort abzuschneiden, wie es z. B. die Clodianer mehrmals in der Verhandlung gegen Milo im Jahre 52 taten (Ascon. 40–41 C; Schol. Bob. 112 St). Der dem römischen Gerichtshof vorsitzende Beamte verfügte über so gut wie keine Mittel, um das Publikum ruhig zu stellen; alle derartigen Versuche wären vergeblich gewesen. Normalerweise wurde die Ordnung wahrscheinlich durch Liktoren aufrechterhalten, die sowohl Prätoren als auch iudices quaestionum zugeteilt wurden57. Lediglich in Sonderfällen durfte man das Gericht unter bewaffneten Schutz stellen, wie es in dem erwähnten Miloprozess geschah58, aber damals konnten sogar die bei der Verhandlung anwesenden Soldaten die Clodianer von feindseligen Ausfällen gegen Cicero nicht abhalten. Neben mündlichen Interventionen verschafften die Zuschauer ihren Meinungsäußerungen auch durch Gesten Nachdruck: Sie spendeten z. B. dem Redner Applaus59 und in der Verhandlung gegen M. Scaurus im Jahre 54 schüttelten viele aus dem Publikum bedrohlich die Fäuste gegen die Ankläger60.
53. Zur Interaktion zwischen einem Gerichtsredner und seinem Publikum vgl. Criste 2018, 15–16; Knopf 2018, 210.

54. Vgl. Cic. Or. 107; Catull. 53.

55. Vgl. Cic. Brut. 290. S. auch Cic. Verr. 2. 4. 27; Caec. 28.

56. Vgl. Cic. Rab. perd. 18; Ad Q. fr. 2. 3. 2. Es ist aber zu bemerken, dass sich die letzten zwei Belege auf das Komitialverfahren beziehen.

57. Vgl. Weiss 1937, 2429; Kunkel, Wittmann 1995, 122.

58. Ascon. 30, 40–41 C; Plut. Cic. 35; Cass. Dio 40. 53. 3; 40. 54. 2; Schol. Bob. 112 St.

59. Dies wurde für das höchste Lob gehalten; vgl. z. B. Quintil. Inst. 8. 3. 3–4.

60. Ascon. 29 C: multique e populo manus in accusatores intenderent. Vgl. mit dem Verhalten der Zuschauer in der im Jahre 67 vom Volkstribun C. Cornelius einberufenen contio, die dem Konsul Cn. Piso mit den Fäusten drohten (Ascon. 58 C: intentabant manus).
17 Die feindselige Reaktion der corona sollen Richter sehr ernst genommen haben. Im Jahre 61 in der Verhandlung gegen Clodius wurde das Richterkollegium durch das Geschrei der anwesenden Clodianer so erschreckt, dass die Geschworenen forderten, ihre Sicherheit zu garantieren. Auf Senatsbeschluss wurde ihnen eine Wache mitgegeben. Cicero, vielleicht etwas übertreibend, schreibt, dass die Richter, die für Verurteilung des Clodius gestimmt hätten, in große Gefahr (summum periculum) gekommen seien (Cic. Att. 1. 16. 5–6); diese Gefahr ging offenbar vom Gerichtspublikum aus. Im Scaurusprozess des Jahres 54 wurde der Prätor M. Porcius Cato, unter dessen Vorsitz das Verfahren abgehandelt wurde, unter Druck des Publikums gezwungen, gegen die Ankläger wegen Verleumdung (calumnia) ermitteln zu lassen61.
61. Ascon. 29 C: Cato praetor, cum nollet de accusatoribus in consilium mittere multique e populo manus in accusatores intenderent, cessit imperitae multitudini ac postero die in consilium de calumnia accusatorum misit. – „Der Prätor Cato, obwohl er nicht wünschte, die Geschworenen gegen die Ankläger verhandeln zu lassen, und viele aus dem Volk schüttelten die Fäuste gegen die Ankläger, gab dem unwissenden Pöbel nach und ließ die Geschworenen gegen die Ankläger am nächsten Tag wegen Verleumdung verhandeln“. In allen Handschriften steht cum vellet. Clark schlägt vor, stattdessen cum Cicero vellet zu lesen, aber seine Ergänzung scheint nicht besonders treffend zu sein: Angesichts des guten Verhältnisses Ciceros zur Familie des Hauptanklägers ist es schwer nachzuvollziehen, zu welchem Zweck er einen Prozess wegen calumnia hätte initiieren sollen; zudem war Cicero nur einer von sechs Verteidigern des Scaurus (s. Alexander 1977, 117, n. 26). Alle anderen modernen Herausgeber behalten den überlieferten Text bei; aus diesem ergibt sich, dass der Prozess gegen Scaurus’ Ankläger auf Initiative des dem Gerichtshof vorsitzenden M. Cato im Gang gesetzt wurde (so Greenidge 1901, 469). Das ist m. E. wenig wahrscheinlich, weil: 1) Dies die Satzlogik zerstören würde (im Folgenden berichtet Asconius, Cato cessit imperitae multitudini, was bedeuten muss, dass der Prätor gegen seinen eigenen Wunsch agierte; s. Lewis 2006, 231); 2) Cato aller Wahrscheinlichkeit nach mit den Anklägern sympathisierte, auch wenn er als Vorsitzender sicherstellte, dass das Verfahren fair ablief (vgl. Ascon. 19 C). Cavarzere (1982) nimmt an, dass der dem ständigen Gerichtshof vorsitzende Magistrat die Initiative zur Einleitung des Verfahrens wegen calumnia überhaupt nicht habe ergreifen können. Die Versuche, unter Beibehaltung der überlieferten Lesart Asconius’ Gedankengang anders zu interpretieren, sind nicht überzeugend (s. dazu Alexander 1977, 116–117). Deswegen sollte man der Konjektur Mommsens (1899, 494, Anm. 7) cum nollet den Vorzug geben, die zudem der Überlieferung nahesteht.
18 Es ist kaum überraschend, dass unter solchen Prämissen die römischen Gerichtsredner der corona Rechnung tragen mussten. Cicero zufolge richtete der Redner, wenn er sein Plädoyer hielt, einige seine Argumente speziell darauf aus, das Wohlwollen des Publikums zu gewinnen62. Manchmal wendete sich der Redner nicht an die Richter, sondern sogar direkt an die corona: Dies wirft Cicero z. B. dem Ankläger D. Laelius, seinem Opponenten im Repetundenprozess gegen L. Flaccus von 59, vor63. Allerdings wusste Cicero selbst, wenn nötig, dieses Verfahren zu nutzen (Cic. Sest. 36). Wenn die corona ihm negativ gesonnen war, änderte er manchmal seine Taktik. Im Prozess gegen Flaccus senkte Cicero absichtsvoll die Stimme, als er Argumente vorbrachte, die die Unzufriedenheit der corona hätten hervorrufen können, damit nur die Richter seine Worte hörten (Cic. Flacc. 66)64. Auf diese Vorgehensweise griffen auch andere römische Redner zurück, z. B. der Ankläger L. Manlius Torquatus im Prozess gegen P. Sulla im Jahre 62 (Cic. Sull. 30–31). Wenn Quintilian auf die äußeren Umstände eingeht, die für die vor Gericht verhandelte Sache relevant sind und die der Redner bei der Vorbereitung seiner Rede bedenken sollte, erwähnt er unter diesen auch opinio … exspectatio vulgi („[die öffentliche] Meinung … und Erwartungen des Volkes“) (Quint. Inst. 4. 1. 31).
62. Cic. Fin. 4. 74: Omnia peccata paria dicitis. Non ego tecum iam ita iocabor, ut isdem his de rebus, cum L. Murenam te accusante defenderem. Apud imperitos tum illa dicta sunt, aliquid etiam coronae datum; nunc agendum est subtilius. – „Ihr [d.h. Stoiker] sagt, dass alle Verfehlungen gleich seien. Ich will jetzt nicht mit dir meinen Scherz treiben, so wie ich es in eben diesem Punkt getan habe, als ich den Lucius Murena gegen deine Anklage verteidigte. Damals sprach ich vor Laien, und man musste auch dem Publikum etwas bieten“ (übers. v. O. Gigon).

63. Cic. Flacc. 69: …a iudicibus oratio avertitur, vox in coronam turbamque effunditur. – „Man richtet seine Worte nicht mehr an die Geschworenen; man lässt seine Stimme zur umstehenden Menge schallen“ (übers. v. M. Fuhrmann).

64. Gruen (2013, 18), m. E. ohne guten Grund, hält Ciceros Worte für Bouffonerie.
19 Manchmal äußerten die Zuschauer ihre Unzufriedenheit mit einem Urteil. Nach dem Freispruch des M. Valerius Messala, der im Jahre 51 wegen Wahlbestechung angeklagt worden war, „fielen [die in der Verhandlung Anwesenden] mit lauten Schmährufen über die Richter her und gaben zu verstehen, dass das wirklich nicht mehr zu ertragen sei“65. Am nächsten Tag wurde der berühmte Redner Q. Hortensius Hortalus, der Messalas Verteidigung führte, zum ersten Mal in seinem Leben im Theater durch die Zuschauer ausgepfiffen. Auch die Verurteilung des Oppianicus im Jahre 74 rief heftige Empörung hervor. Unter dem Volk kam die Meinung in Umlauf, dass die Geschworenen bestochen worden seien, sodass manche Mitglieder des Geschworenengerichtshofs (iudicium Iunianum), einschließlich des Vorsitzenden, des Ädilicius C. Iunius, daraufhin deswegen vor Gericht gezogen wurden66. Gegen einige von ihnen sprachen die Zensoren des Jahres 70, L. Gellius und Cn. Cornelius Lentulus Clodianus, eine Rüge aus (Cic. Cluent. 117–119, 123–132).
65. Cic. Fam. 8. 2. 1: clamoribus scilicet maximis iudices corripuerunt et ostenderunt plane esse quod ferri non posset (übers. v. H. Kasten).

66. Zu diesen Prozessen vgl. Alexander 1990, 77 (no. 153), 78 (no. 154), 84–85 (no. 170) mit Hinweisen auf Quellen.
20 Noch eine wichtige Funktion der corona wurde von Christina Rosillo-Lopez mit Recht herausgestellt: Das Gerichtspublikum informierte auch die übrige Bevölkerung Roms über die Verhandlungen67. In den Briefen an seine von Rom abwesenden Freunde übermittelt z. B. Cicero Nachrichten von den großen Prozessen, bei denen er offenbar anwesend gewesen war68. Briefpartner Ciceros tun das Gleiche in ihren Briefen an ihn69. Bis zum Jahre 59, als man auf Initiative Caesars die Acta diurna zu veröffentlichen begann (Suet. Iul. 20. 1), die aller Wahrscheinlichkeit nach u. a. Berichte über Strafverhandlungen enthielten70, konnten die Römer über Gerichtsnachrichten lediglich von ihren dort anwesenden Freunden und Bekannten erfahren. Es ist nicht überraschend, dass diese Zuschauer eine große Rolle in der Bildung der öffentlichen Meinung über Gerichtsurteile spielten. Die Unzufriedenheit des Volkes mit einem Freispruch konnte z. B. Feinde der Freigesprochenen zu Erhebung einer neuen Anklage anregen71.
67. Rosillo-Lopez 2017b, 115–116.

68. S. etwa Cic. Ad Q. fr. 3. 4. 1.

69. Vgl. z. B. Cic. Fam. 8. 2. 1.

70. S. dazu etwa Lintott 1974, 69, n. 91, 74; Baldwin 1979, 191; Marshall 1985, 57; White 1997, 83.

71. Zur Rolle der öffentlichen Meinung im römischen Gericht vgl. ausführlicher Rosillo-Lopez 2017a, 204–218; 2017b, 117–118.
21 Selbstverständlich stellte die corona ein informelles Element des römischen Verfahrens dar, sodass sie lediglich in der Lage war, einen indirekten Einfluss auf einen Prozessausgang auszuüben. Trotzdem konnte die Meinung des Publikums manchmal durchaus schwer ins Gewicht fallen. Nach der Einrichtung der quaestiones perpetuae wurde die judikative Funktion der Komitien weitgehend auf diese neuen Gerichtshöfe übertragen, aber das souveräne römische Volk war immer noch an der Strafrechtspflege beteiligt. Die in die Gerichtsverhandlung kommenden Zuschauer galten, analog zu Zuhörern der contiones und Abstimmenden in den Komitien72, als Vertreter des Volkes, die durch ihre Präsenz die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sowie die Rechtschaffenheit eines von den Geschworenen gefällten Urteils garantieren sollten und deswegen einen notwendigen Bestandteil des Strafprozesses darstellten73. Der Redner konnte deshalb das Gerichtspublikum als populus Romanus betrachten und ansprechen, dessen Reaktion als Meinungsäußerung der gesamten Bürgerschaft galt74. Die corona kann deswegen als eine Art nicht-beschlussfassende Volksversammlung verstanden werden. Im Regelfall wurde natürlich das Urteil des Richterkollegiums von dem Publikum ohne Widerspruch akzeptiert, genauso wie die von Magistraten eingebrachten Gesetzesanträge, die fast nie von den Gesetzkomitien abgelehnt wurden75. Trotzdem wurde stillschweigend anerkannt, dass das Volk seine Meinung offen äußern und sogar ins Verfahren eingreifen durfte, falls es aus irgendeinem Grund ein Gerichtsurteil für ungerecht hielt. Der öffentliche Konsens bezüglich der Entscheidung der Richter war deshalb gewünscht und wichtig, und die Geschworenen sollten auf die Erwartungen des Publikums Rücksicht nehmen. Bemerkenswert ist es, dass in republikanischer Zeit keine Versuche unternommen wurden, den Zugang des Publikums zu Gerichtsverhandlungen zu beschränken oder zu sperren, selbst wenn sein Verhalten den Verlauf des Prozesses behinderte76. Zudem war das Gericht einer der wenigen Orte (neben contio, Theater und Zirkus), wo der einzelne Plebejer seine Stellung seinen aristokratischen Führern gegenüber öffentlich zum Ausdruck bringen durfte. Da viele Prozesse vor den quaestiones perpetuae durch die politischen Umstände der Zeit geprägt waren, sind Fälle eines Einschreitens der corona ins Verfahren manchmal als politische Demonstrationen zu betrachten; aber dies geschah nur dann, wenn das Volk von Angehörigen der senatorischen Elite mobilisiert und gelenkt wurde.
72. Vgl. dazu etwa Flaig 1995, 85–86; Hölkeskamp 1995, 36; Laser 1997, 139–140; Knopf 2018, 254–255.

73. Vgl. Smyshlyaev 2008, 94, Anm. 123: „Die auf dem römischen Forum tagenden Richter wurden in einem gewissen Sinne als Vertreter des römischen Volkes angesprochen und die Zuschauer, die den Gerichtsraum umgaben (corona), als das Volk selbst“. S. dazu auch David 1992, 474: „les juges se définissaient comme les représentants du peuple romain, la foule devenait le peuple luimême“.

74. Cic. Verr. 1. 48; 2. 1. 12; 2. 3. 80; 2. 5. 3; 2. 5. 32; Caec. 28; Flacc. 97; Sest. 36. Vgl. dazu David 1992, 472.

75. Vgl. dazu etwa Flaig 1995, 80–84; Mouritsen 2001, 64–67; 2017, 58–61.

76. Eine Tendenz zur Begrenzung der Öffentlichkeit des Verfahrens ist erst in der Zeit des Prinzipats erkennbar, als man dazu überging, die Gerichtsverhandlungen immer häufiger von den Fora in weniger öffentliche Räume zu verlegen. Aber auch in der frühen Kaiserzeit war das Publikum nur in Ausnahmefällen von Prozessen ausgeschlossen (Suet. Aug. 93; vgl. Knopf 2018, 212–213).

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